Brüssel16. mai 1891.Mein lieber Arthur!Dein Brief als ersten Freundesgruß imn fremder Stadt – das
hat mir aufrichtig wohlgethan. Sei von Herzen bedankt für Deine Treue! Wenn ich Dir von unterwegs eine Karteschickte,so
geschah das nicht, um Dir zuschreiben,sondern um Dir einen Beweis zu geben, daß ich
mitten im Wirrwar der neuen Eindrücke und im Fieber der Arbeit
Deiner denke. Das war eine harte Zeit – diesesechs Tage. Morgens
in der Regel um fünf Uhr aufstehen, um die Bergleute noch vor der Einfahrt in den
Schacht zusehen,stundenlang im glühenden Sonnenbrand überstaubige Chausséenfranzösisch: Landstraßen wandern,sich täglich von vertrackten Localbahnen das Herz aus dem Leibeschütteln lassen, und Abends, todtmüde, den Berichtschreiben (um ihn dann), einige Tagespäter, elend zusammengestrichen oder
gar nicht im Blatte zu
finden). Endlich in bin ich heut nach Brüssel gekommen; abersei es nun die Nervenreaction gegen die
Überanstrengung der letzten Tage,sei es das Erwachen des Bewußtseins aus dem Rausche
der Arbeit – ich fühle mich todtenbang und psychisch elend. Und als ich Deinen Brief
las, war es ein veritables tiefes, tiefes Heimweh nach Wien, das mir durch das Herzschnitt, wie
nur ein Heimwehschneiden kann. Und es war nicht blos ein Heimweh nach Wien,sondern eine Sehnsucht nach der besseren Welt
dort, die ich auf immer verloren. Du kennst ja meinen Neid mit der umgekehrten
Spitze, dersich nicht gegen den Andernsondern gegen michselbst kehrt. Undso war
es mir ein gar bitteres Gefühl, als ich von Deinen Erfolgen las, daß ichso ganz aus
der Reihe Jener gerissen bin, die nach dem hohen Zielestreben, das nicht mehr das
de meinesein darf. Wirsind eine Zeitlang Seite an Seite gewandert; jetzt bin
ich an einem Stein am Wege unterwegsstehen geblieben undsehe Dir wehmüthig nach,
wie Du emporsteigst. Das ist die Schlacke, die meine Empfindung der Freude an deinen
Erfolgen aufsetzt; wirsind eben Alle keine Menschen der reinen Empfindungen; vom
Herzen, dem daies Gefühl entströmt, tropft immer ein wenig Ich mit hinein. Ichsage Dir das
eigentlich nur, um auf der andern Seite das Recht zu haben, von der warmen
Aufrichtigkeit meiner Mitfreude zusprechen. Nurso weiter! Stark und tapfer! Und ich
habe nur einen Wunsch für Dich: daß al Dir gelingen die Kraft werde, all’ das Schöne
aus Dir herauszuarbeiten, was – meiner festen Überzeugung nach – in Dirsteckt. Die
Kritikenschickst Du mir wohl alle; Du bekommstsie pünktlich zurück; ebenso werde
ich Dich, wenn ich mich erst ein wenig eingearbeitet und mir Zeit genommen habe, um
alle drei Acte des Stückes
bitten. Desgleichensollst Du mir baldFolgendes schreiben: 1.) wie Du Deinen Tag
verbringst, mit genauer trockener Aufzählung der regelmäßigen Beschäftigung von Früh
bis Abend 2.) ob Schwarzkopf dein Stück
bereits gelesenGustav Schwarzkopf dürfte Das Märchen erst am kennengelernt haben, als Schnitzler es ihm und anderen Freunden vorlas. hat? 3.) ob Du noch mit Jung-WienGemeint ist ein loser Verein, bei dem immer Dienstags neue
Texte vorgelesen wurden. Das erste Treffen (mit Beteiligung Goldmanns) fand am in der Weinhandlung Wieninger statt, das letzte, das Schnitzler erwähnte, am , eventuell
auch am darauffolgenden Dienstag. verkehrst? 4.) ob Du noch zu Fanjung’sDas Brüderpaar Leo und Boris
Van-Jung erwähnte Schnitzler im Tagebuch im Jahr 1891 nur am , in den
Folgejahren jedoch öfter. kommst? 5.) wer jetzt Deinen hauptsächlichen
Verkehr bildet? 6.) was Olga macht? 7.) was Du liest? und 8.) was Du zuschreiben gedenkst? –
ja richtig und 9.) noch was Du für den Sommer vorhastSchnitzler verbrachte den Sommer
1891 unter anderem in Baden, Ischl und Halle
an der Saale.? Du wirst zwar nach Beantwortung all’ dieser Fragenso erschöpft von der Anstrengungsein, daß Du wirst eine einwöchentliche
Kaltwasserkur gebrauchen müssen (BriefkastenwitzUnklare Anspielung;
eventuell bezieht sich der Ausdruck »Briefkasten« auf einen in vielen
Zeitschriften enthaltenen Abschnitt, in dem unter diesem Titel
Antworten der Herausgeberinnen und Herausgeber auf Zuschriften des Publikums in
knapper, oft auch satirischer Form gegeben wurden.) – aber Du thust mir’s
wohl aus alter Freundschaft.
Meinen gegenwärtigen Lebensinhalt wirst du wohl aus dem, was am Eingang dieses
Briefessteht, zur Genüge erkennen. Brüsselsagt
mir vorläufig gar nichts – essei denn, daß es eine unsäglich theure Stadt ist und daß ich keine Ahnung habe, wie
ich hier mit meinem kleinen Gehalt und meinen großen Schulden lebensoll. Große
Sorgen machen mir ferner die äußerst verzwickten politischen Verhältnisse, in die
mich einzuarbeiten ich Monate Zeit haben müßte, während man meinsofortiges Treten in Action verlangtsowie
meine Unkenntniß im Französischen. Meine Fähigkeit zu verstehen ist gleich Null; und
wenn es noch vier Grad weniger gibt als Null,so bezeichnet dieses meine Fähigkeit
mich verständlich zu machen. Vonselbst wird das nicht kommen; Alle lügen, diesagen,
man lerne die Sprache durch einen Aufenthalt im fremden Lande vonselbst; und Zeit
zum Studiren habe ich absolut nicht. Zwei Eigenthümlichkeiten von Belgiensind mir besonders ins Auge gefallen: es ist ein Land, in dem es keine
Zahnstocher gibt, und in dem man die Thürklinken durch einen Druck von unten nach
oben öffnet. Außerdemsind die Kellner hier von einer unerhörten Unhöflichkeit und
Schlamperei, und ich muß oft an Dich denken, der Du – nachdem Du mit Kellnern keinen
Spaß verstehst – längst einem dieser Kerle ein Messer in den Leib gestoßen haben
würdest, hoffentlich gewinnen die Dinge ein freundlicheres Aussehen für mich. Heut komme ich mir – wie nie vorher – vor wie in der
Verbannung, und alle meine Wünsche regensich, um diesen Brief zu begleiten in das
trauliche, von Cigarettendampf
erfüllte ZimmerHierbei dürfte es sich um
eine Beschreibung von Schnitzlers Zimmer
handeln. mit dem Divan, in dessen reichen und coquett geordneten Kissen essichso weich ruht und von dem man einen Ausblick hat auf das »Pfühlösterreichisch: Polster« im AlkovenBettnische und die Landschaft mit dem unglaublichen MondSofern hier ein Bildobjekt (Gemälde, Stich, …) alludiert wird, so ist nicht klar,
welches gemeint ist. darüber Gott grüße Dich,
mein lieber kleiner Arthur! Ich umarme Dich in alter Freundschaft und drücke Dir
beide Hände dazu.
Dein treuer Paul Goldmann.Sobald ich eine Adresse habe, theile ichsie Dir mit
Empfiehl’ mich den Deinen! Die Meinigen haben Dich mehreremale grüßen lassen, aber ich habe immer
vergessen, Dir’s zuschreibenÀ propos: wenn Du Herauskriegen könntest, warum mir der Schurke, der Beer-Hoffmann, nichtschreibtDer erste
überlieferte Brief Goldmanns an Beer-Hofmann ist vom
10. 4. 1891, danach folgt eine Lücke bis zum November des Jahres. (Houghton Library, MS Ger 183,
Box 4.) wäre ich Dirsehr dankbar.