Dr. jur. Paul GoldmannCorrespondant de la »Gazette de Francfort«Bruxelles, 21, rue des Plantes.Brüssel, 27.
October 91.Mein lieber Arthur!Ich entschließe mich nicht leicht zum Schreiben an Dich, offen gestanden. Denn ich
komme mir vor, wie einer ein lästiger Mahner, der eine Gefühlsschuld eintreiben will, zu deren
Honorirung nicht mehr der nöthige Bestand vorhanden ist. Alle Symptomesprechen mir
dafür, daß das gekommen ist, was kommen mußte: Daß ich für Euch ein Stück
Vergangenheit geworden bin; und alssolches habe ich natürlich weit hinter den Sachen
Eurer Gegenwart zurückzustehen. Ich bin eine Erinnerung für einsame Sonntag
Nachmittage geworden
Also einiges von mir. In Brüssel geht es mir
jetzt etwas besser – moralisch wenigstens. Ich bin den Leuten hier ein klein wenig
näher getreten, habe manchen lieben Menschen,
mancheschöne Künstlernatur gefunden und bin mit dem Einen oder dem Andern wenn auch
nicht Freund,so doch gut bekannt geworden. Sogar ein kleines Milieu junger Künstler und Lebemänner in meinem Alter, ein
Milieu der Hectors und GastonsGoldmann dürfte sich auf die zwei verarmten
adeligen Lebemänner Hector de
Montmeyran und Gaston de
Presle aus der Komödie Le Gendre de M.
Poirier (1854) von Émile Augier und
Jules Sandeau beziehen., habe ich
gefunden. Am meisten verkehre ich mit Chainaye, dem jüngsten Redacteur der Indépendance Belge: enragirter Wallone
und Romane»Belgique romane« ist ein Überbegriff
für mehrere Dialekte. Der bedeutendste ist der wallonische., reiches
künstlerisches Sentiment, Stimmungsmensch, melancholisches Talent, Verfasser mystisch-empfindsamer Gedichte in ProsaProsagedichte Hector Chainayes finden sich
zum Beispiel in seinem Band L’Âme des choses
(1935). Viele der darin enthaltenen Gedichte wurden bereits
zwischen 1886 und 1888 in Zeitschriften wie La Wallonie, La Basoche und La Jeune Belgique
veröffentlicht., blond, krank, s
geistsprühend und lustig in der Conversation bei dem Allen und – was das beste ist –
mit einigen kl Zügen, die entfernt an Dich erinnern. Nach Besiegung des Deutschenhasses, der
Verständigungsschwierigkeiten, des Mißtrauens gegen den Fremden etc. etc. bin ich ihm näher getreten. Und in diesemnTagenstehe ich ihm rathend zur Seite bei einem
großen Bruch mitseiner Maitressenicht identifiziert, diesich zu
tödten droht etc. etc. (siehe JeannetteJeannette Heeger, Geliebte Schnitzlers, unternahm am einen
Suizidversuch mit einer Pistole..) Ein närrisches Ding, das Leben, – nicht
wahr? Außerdem habensich meine Beziehungen zu den Brüsseler Journalistensichtlich verbessert. Es ist ein geradezu enormer
Unterschied zwischen den Brüsseler und den Wiener Collegen. Hiersind es – von wenigen
Ausnahmen abgesehen – liebe, gute Burschen mit prächtigem Benehmen, voll Gefälligkeit
und Liebenswürdigkeit, und manch’ eineschöne Künftlernatur ist auch hier darunter –
Leute, die den Journalismus machen, um Brod zu verdienen, aber im Übrigen s’en fichentfranzösisch: sich nicht kümmern
und warmen Herzens der Kunst anhängen. Ich mache hier eifrige Propaganda für die
NorwegerGemeint sein dürfte vor allem Henrik Ibsen, eventuell auch Knut Hamsun. In der im Folgenden erwähnten
Zeitungsmeldung von Charles Tardieu wird allgemein von der Ibsen-Schule gesprochen und vor allem der
SchwedeAugust Strindberg behandelt., und
Tardieu, der Chefredacteur der
Indépendance, der unter den interessanten hiesigen S Collegen vielleicht der interessanteste ist, hat diese meine Bemühungensammt
Citat meines Namens in der Indép.verewigtCharles Tardieu: Théâtres et beaux-arts. In: L’Indépendance Belge, Jg. 62, H. 281,
8. 10. 1891, Abendausgabe, S. 3: »Voilà qui nous mène en Scandinavie et de là à Berlin
et Munich, où l’école ibsénienne a un public enthousiaste.
Mais que parlons-nous encore d’Ibsen?
L’auteur du Canard sauvage est absolument distancé dans son pays. Novateur et réformateur en Allemagne et en France, il est
déjà ›vieux jeu‹ dans sa Norvège.
Notre confrère de
la Gazette de Francfort, le docteur Goldmann, très au
courant des curiosités et nouveautés littéraires, nous expliquait cela
dernièrement, et il nous prédisait le prochain avènement d’Auguste Strindberg, un dramaturgesuédois et nietzschien. Suédois? vous comprenez. Mais pour ›nietzschien‹
sachez que Frédéric
Nietzsche est, comme eût dit Stendhal, ›l’expression la plus
récente‹ de la philosophie allemande. Or, voici que la prédiction se vérifie. Le Théâtre Libre de Berlin et celui de Munich monteront cet hiver Mademoiselle Julie, de M. Auguste Strindberg, une
tragédie
naturaliste à trois personnages, en un acte et une nuit. En deux mots Mlle Julie, hystérique
par atavisme, est amoureuse du domestique de son père. Elle fait
littéralement le siège du valet qui lutte et-succombe. Tous deux se
préparent à s’enfuir. Mais la cuisinière raisonne les deux amants, les
rappelle au sentiment des convenances sociales, et, ma foi, réussit à les
calmer. La toile tombe sur une rupture, definitive, espérons-le. Il est
probable que l’analyse des caractères ajoute à l'intérêt de cette donnée,
déjà séduisante par elle même. De quoi s’agit-il après tout? D'un accident.
A quoi bon se troubler et déranger sa vie pour si peu de chose? Christine
est dans le vrai. On voit bien qu'elle sait l'art d'accommoder les
restes.
«, worauf dann die Notiz mit »notre confrère le docteur Goldmann de le Gazette de Francfortfranzösisch: unser Kollege Dr. Goldmann von der Frankfurter Zeitung« die Runde durch die Pariser Presse, vom
FigaroGeorges Boyer: Courrier des Théâtres. In: Le Figaro, Jg. 37, H. 286, 13. 10. 1891,
S. 3. bis zum Rappelnicht nachgewiesen, gemacht
hat. Auch dieer Verkehr zurmit der officiellen Welt ist angenehm. Ich werde von mehreren Ministern mit allen
meinem Range gebührenden Ehren empfangen etc. Außerdem ist
die Stadt mit ihrem ScheinAbglanzfranzösischen Kunstlebens recht
interessant, und es gibtschöne Abende im Theater und im Concert. Endlich das
herrliche Historische. Die alte niederländische Malerei. Ich beginne hier langsam zu begreifen, was das für
Dingersind, die Rubens, van Dyck und Rembrandt. Und das ist ein Quell neuer und ungeahnter
Genüsse.
Dassind die guten Seiten. Aber die bösensind geblieben,sind vielleicht noch
trostloser als zuvor, und haben nur die Gesichter zum Theil gewechselt. Keine
Zukunft, keine Zukunft. Die Möglichkeit,sich ein Vermögen zu machen, existirt nicht.
Mein Gehalt ist jämmerlich und wird nicht gesteigert. Die großen Pflichten, die ich gegen die Meinen.
habe, treten immer drohender an mich heran. Und außerdem werde ich von Seiten
des Blattes genauso gemein und
ungerecht behandelt, wie es mir in Wien geschehen
– H. Sonnemann, der Chef und Gebieter, ist ein erbarmu erbarmungsloser Blutsauger, der verlangt, daßsichseine
Leute zu Todeschinden und der ihnen auch dann noch
beim kleinsten Versehen heftige Vorwürfe macht. Außerdemsitzt eine CanailleSchurke, Bösewicht in der Redaction, ein Mensch, der mich kaum kennt, dem ich nie
etwas gethan habe und der mich trotzdem haßt, Gott weiß warum. Er ist zum Unglück
mein unmittelbarer Vorgesetzternicht identifiziert, und ihm
habe ich es zu danken, daß man meine Ernennung für den Pariser Posten,
welche im Zuge war, unterblieb, weil ich mit der Nachricht vom Tode BoulangersGeorges Boulanger hatte am
30. 9. 1891 in Ixelles
Suizid begangen. eine Stundespäter gekommen, als die officielle
Telegraphenagentur – die Agence Havas! Und ähnliche Schurkereien. Ich leide entsetzlich darunter undsehne mich
blutenden Herzens mehr als je nach Erlösung. Ein kleines Capital und Rückkehr nach
Wien. Denn das ist nach wie vor das oberste
Ziel meiner Wünsche. Es vergeht nach wie vor kein Tag, wo ich nicht zehn-, zwanzigmal an Dich und die
theure Stadt denke. Und als das
Orchester der PompiersSonntag die Straßen mit dem Schrammel-Marsch durchzog, lief ich
hinterher und wischte mir, wie der bekannte Vater im Singspiel, die Thränen mit dem Rockärmel
ab. Aber ich habe keine Hoffnung. Mein Leben wird in harter Sklaverei verfließen,
fern von Allem, was ich lieb habe; und zu großen befreienden Werken habe ich weder
das genügende Talent, noch die genügende Energie
Wollte ich nun alle die Fragen aufschreiben, die ich an Dich zu richten habe, es
ginge noch ein Briefbogen darauf. Aber ich thue es nicht; denn ich weiß, daß du mirsie eh’ nicht beantworten wirst. Der lange Brief, von
Dir, der nicht kommt,sagt mir viel mehr, als ein
einer, der gekommen wäre. Du hast Recht, mein
lieber Alter; es gibt auch in der Freundschaft »EpisodenAnspielung auf Schnitzlers Einakter Episode«. Jeder verbraucht halt inseinem Leben eine gewisse Anzahl Menschen, und von
mir ist nur mehr der letzte Bodensatz vorhanden. Dir ist kein Vorwurf zu machen. Es
ist die Natur, die esso eingerichtet, daß das Vergessen in derseelischen Welt genauso meh mechanisch und nothwendig und mit denselben
Endzwecken vorsich geht, wie das Verdauen in der körperlichen
Mir brennt das Gewissen oft, wenn ich daran denke, daß ich Loris und Richard noch nicht auf ihre Briese geantwortet habe. Aber mir lähmt der Gedanke die zum
Schreiben angesetzte Hand, daßsie, wennsie meinen Brief erhalten, die Empfindung
haben könnten,: was will der Mensch eigentlich von mir? Grüße die Zwei bitte viel tausend Mal von mir undsage ihnen in meinem Namen
alles Liebe und Gute, wassich finden läßt
Deinem Bruder und Kapper herzlichste Grüße. Den Deinen ergebene Empfehlungen. Dirselbst –schweres
Problem. Ich möchte Dir am Liebsten meinen Segen geben,so abgeschieden komme ich mir
Dir gegenüber vor.
Dein
treuer
Paul Goldmann.Drei Bitten 1.)sag’ doch dem Schuft, dem Dr. Joachim, wenn er die ihm geschickte kleine Arbeit nicht brauchen kann,sosoll er mirsie augenblicklich zurücksenden, weil ich Verwendung dafür habe; auchsoll er mir dasjenige Heft der »Modernen DichtungPaul Goldmann: Was einem so einfällt. In: Moderne Dichtung, Jg. 1, Bd. 2, H. 1,
S. 521–522.« (nicht RundschauPaul Goldmann: Nämlich. In: Moderne
Rundschau, Jg. 1, Bd. 3, H. 1, 1. 4. 1891,
S. 34.)schicken, in dem Aphorismen von mir erschienensind; ich brauchesie
dringend und zahle en eventuell dem Buchhändler dafür 2.) hast Du eine Ahnung, was zwischen HerzHerzl undseiner FrauvorgegangenMöglicherweise hatte Goldmann von der Ehekrise der Herzls gehört. Theodor Herzl teilte seinem SchwiegervaterMitte Mai 1891 mit, dass er die Scheidung wolle. Julie Herzl, mit der Theodor Herzl bis zu seinem Tod verheiratet blieb, war
zu dieser Zeit schwanger. Vgl. Theodor Herzl:
Briefe und
Tagebücher, herausgegeben von Alex Bein, Hermann Greive, Moshe Schaerf und
Julius H. Schoeps. Bd. 1: Briefe und autobiographische
Notizen. 1866–1895, bearbeitet von Johannes Wachten, in
Zusammenarbeit mit Chaya Harel, Daisy Tycho und Manfred Winkler.
Berlin/Frankfurt am Main/Wien:
Propyläen1983, S. 439–443.? 3.) Weißt Du
vielleicht – nicht lachen, bitte! – den Namen einer TgutenTru Truppe Tiroler Sänger, an welche mansich wenden könnte, umsie zu einer Reise
nach Brüssel zu veranlassen?