Frankfurter Zeitung(Gazette de Francfort).Fondateur M.L. Sonnemann.Journal politique, financier,commercial et littéraire.Paraissant trois fois par jour.Bureau à ParisParis, 19. Nov.10 Rue de la
Bourse.Mein lieber Freund,Ichschreibe Dir heut nur in Kürze, um mich zu
entschuldigen. und Dir für Deine Nachsicht zu danken. Seit Wochen warte ich vergebens auf
eine freie Stunde, um Dir zu schschreiben. Seit ich Deinen letzten,soschönen und ergreifenden Brief mit der
traurigen Nachricht erhielt, vergeht kein Tag, wo ich nicht mit der Absicht aufstehe:
Heut wird geschrieben. Aber die Ereignissesind erbarmungslos und lassen mich nicht
zu Athem kommen. Du Du kannst Dir nicht vorstellen,
welche Zeit wir hier durchmachen. Es geht zu wie im
Tollhaus. Seit Wochen leiste ich übermenschliche Arbeits-Anstrengungen. Du verfolgst
ja vielleicht auch von fern das Wiedererwachen der Affaire Dreyfus. Seit ich Journalist bin, habe ich etwasso Aufregendes nicht miterlebt. Es
wird allmälig eine Krisis daraus, die das ganze Land zu ergreifen beginnt. Es herrscht eine Fieber-Athmosphäre,
und wenn man da mitten drin lebt und außerdem die Pflichten des Berufes erfüllen, das
heißtsich Meinungen bilden und das Publicum informiren muß, und wenn man außerdem
eine persönliche Stellung in der Angelegenheit eingenommen.
hat und keinen Tag die Zeitungen in die Hand nehmen kann, ohne fürchten zu
müssen,sich als Spion oder Verräther entehrt zusehen, – wenn das Alles und noch
mehr auf Einen einstürmt,so kannst Du Dir denken, in welcher Gemüths- und
Nerven-Verfassung mansich befindet. Die Ruhe, um auf Deineso lieben undschönen
Briefe auch nur annähernd in einem ent entsprechenden
Tone zu antworten, ist unmöglich zu finden. Nachdem Du mirsolange verziehen hast, verzeihst Du mir wohl noch ein wenig, bis endlich,
endlich d die Stunde der Sammlung kommt, um Dir denseit Wochen geplanten langen Brief zuschreiben.
Und nun habe ich noch eine große Bitte. Mit der Familie B.Vít Šalomoun und Charlotte Bondy und
die jüngere Tochter Alice (nachmalig
verheiratete Ziegler) in Prag unterhalte ich eine Correspondenz. Die Mutterscheint eine blöde Gans zusein, das Mädchen aber ist wohl ein liebes Kind. Ich
kann mir kaum de denken, daß alle Träume, welche ichseit dieser kurzen Ischler Bekanntschaft in mir herumtrage,
jemals zu Wirklichkeiten werdensollten. Aber es
ist mir eine Wohlthat, hier in der Heimatlosigkeit, in dieser Hölle von Anstrengungen
und Aufregungen, an ein liebes Mädchen-Gesicht denken zu können, wie an eine
Hoffnung. Darum bitte ich Dich rechtsehr: Geh’ zu den Leuten hinSchnitzler traf Charlotte und Vít Bondy bei seinem
Aufenthalt mehrfach, am , , und . (Mariengasse 45),schau Dir an, wersiesind, höre auch, was die Anderen übersiesagen, und,
wenn Du es für gut findest,sprich ein freundliches Wort über mich. Jedenfalls abersende mir einen recht ausführlichen Bericht!
Ja? Das ist ein wahrer Freundschaftsdienst, den ich verlange.
Ich wünsche Dir von Herzen Glück zu Deiner Vorlesung und Deiner
Première in Prag.
und grüße Dich Tausend Mal in Treue
Dein
Paul GoldmIchschreibe in höchster Eile und kann Dir nur mit einem Wortsagen, wiesehr mich die Nachricht vom
Tode der armen FrauOlga Waissnix war am 4. 11. 1897 in Wien verstorben. Schnitzler hatte davon am
erfahren. ergriffen hat. Wieder ein Stück Jugend unwiederbringlich verloren!
Wiesich um uns her herum die Vergangenheit
auszudehnen beginnt, das Gewesene, – das nie mehr wiedersein wird, – das bereits
verbrauchte Leben! Und diese Ärmste, die fort mußte, ehesiesich ausleben gekonnt, die wahrscheinlich
erwartete, daß das Eigentliche noch kommen würde! Wie mansich also darauf
vorbereiten muß, daß das Ende eines schönen
Tages kommen kann, ohne daß man Zeit gehabt hat, auch nur mit irgend etwas fertig
zu werden! Und dann, ohne lange Worte: die arme, liebe,schöne Frau!!