Berlin, 20. Januar.Dessauerstrasse 19Mein lieber Freund, daß Du Dir keiner Schuld.
bewußt bist, ist zweifellos, – ebenso, daß Du mir nienie mit Absicht wehgethan hast. Dazu bist Du viel zu gut und mir viel zu gut.
Deine Schuld liegt dar Trotzdem hast Du eine Schuld, undsie liegt darin (Dir unbewußt, mirseit
Jahren bewußt und rechtschmerzlich bewußt), daß in unserer Freundschaft Du mir
längst nicht mehr das Gleiche wiedergibst, wasdas ich Dir gebe, – daß Du es Dir fe es Dir, von
Dir erfüllt,seit Langem abgewöhnt hast, r gründlich auch auf mich einzugehen. Ich lebe mit Dir viel mehr, als Du mit mir
lebst. Und ich habeseit Langem den Eindruck, daß ich (ich muß das Wort wieder
gebrauchen, obw obwohl es AnDir mißfällt) nicht viel mehr bin, als eine Bequemlichkeit in Deinem Leben. Die
Beweise? So etwas kann man nur fühlen, aber nicht beweisen. Aber wenn Du Beweise
willst,so denke an unseren Briefwechsel, all’ die Jahre hindurch. Denke daran, wie viel von Dir darinsteht und wie wenig
von mir. Oh, es hat an Anfragen nach meinen Erlebnissen von Deiner Seite nicht
gefehlt. Aber Du hast Dichstets leicht dabei beruhigt, wenn ich mich, wie es zumeist
geschah, nicht habe entschließen können,sie zu beantworten. Nun weiß ich ja, daß in
keinem menschlichen Verhältniß, in der Liebe ebensowenig wie in der Freundschaft,
Gleiches für Gleiches gegeben wird. Und ich verlange auch nicht mehr, da es in Deiner
Natur liegt,so zusein, da ich Dichsehr lieb habe und da es mir eben darum Freude
macht, an Deinem Leben theilzunehmen, wenn Du Dich auch an dem meinenso wenig
betheiligst. Aber da Du Dir in Deinem letzten Brief keinen Zwang auferlegt und der
Verstimmung, in die ein Brief von mir Dich versetzt, rückhaltslos Ausdruck gegeben
hast,sosehe ich nicht ein, warum ich nicht auch einmal Dirsagensoll, wie bitter
undschmerzlich h ich in den letzten Jahren oft das empfunden
habe, daß ich bei Dir die Stärkung und Aufrichtung,
die ich von Deiner Freundschaft erwartet hatte, nicht habe finden können und daß ich
vom BeisammenseinZuletzt hatten sie sich in WienEnde August / Anfang
September 1901 und in Berlin Anfang
Januar 1902 gesehen. mit Dir nur noch
verstimmter und gedrückter heimgekehrt bin. Und das muß umso mehr gesagt werden, als
es in der letzten Zeit mehrfach dahin gekommen ist, daß Du, weil Du eben nicht
gründlich genug auf mich eingehst, mich nicht verstanden und mich darum verletzt hast. Du hast, wenn ich mich darüber
erregt habe, darin nichts gesehen, als eine kolossale Empfindlichkeit. Ich will Dir
nursagen, daß die Gründe dieser kolossalen Empfindlichkeit tiefer liegen und daß
unsere Differenzen nicht blos daher gekommensind, weil Du ein FeuilletonBezug auf die Auseinandersetzung, die Ende
1901 rund um ein FeuilletonGoldmanns über Gerhart Hauptmann stattgefunden hatte, . von mir ungünstig beurtheilt hast und
weil oder weil Du mir eine »Nachricht«.
gegeben hast.
Zweck hat es nicht viel, das Alles zusagen. Ändern wirdsich dadurch nichts. Unser
Verhältniß hat die Gestalt angenommen, die es
nothwendiger Weise annehmen mußte in Folge der Verschiedenheit der Lebensstellungen
und der Charaktere. Insolchen Verhältnissen entscheiden jaschließlich auch nicht
Raisonnementssondern Empfindungen. Und über meine Empfindungen Dir gegenüber brauche
ich wohl nicht erst zusprechen, ebenso wie ich an Deinen aufrichtige freundschaftlichen Empfindungen
zu mir gegenüber nicht den mindesten Zweifel habe.
Aber ich meine, die »Mißverständnisse« (wie Du es nennst), die in letzter Zeit
zwischen uns vorgekommensind,sollten in Zukunft unterbleiben. Gewiß, wirsollen
nicht als Diplomaten,sondern als Freunde verkehren. Aber der Freund, kann nicht mit dem Freund verkehren,
ohnesich ist im Verkehr mit dem Freunde erst recht nicht der Verpflichtung
enthoben,sich zu vergegenwärtigen, was eigentlich in dessen Seele vorgeht.
Und nun gib’ mir Deine Hand undsei von vielmals
und von Herzen gegrüßt!
Dein Paul Goldmnn