Dessauerstrasse 19Berlin, 25. Januar.Mein lieber Freund,Wir wollen die Debatteschließen. Nur Eines noch: Ich habe Dir nicht vorgeworfen, daß
Du von Dir mehr erfüllt bist, als von mir. Es istselbstverständlich, daß Jeder vonsich mehr erfüllt ist als von einem Anderen. Ich meine nur, daß ich in Deinen weil Du von Dir bedeutend mehr erfüllt bist, als es die Regel ist, der Platz,
den ich in Deinem Denken und Empfinden einnehme, auch bedeutend geringer ist, als ein
Freund vom Freunde in der Regel beanspruchen kann. Das ist eine Nuancen-Frage; und über diese läßtsich nicht discutiren. Wir wollen auch
nicht mehr darüber reden, wederschriftlich, noch
mündlich.
Was Du mir über D mein FeuilletonPaul Goldmann: Berliner Theater. (»Lebendige Stunden« von Arthur
Schnitzler). In: Neue Freie
Presse, Nr. 13.438, 22. 1. 1902,
Morgenblatt, S. 1–4.schreibst, könnte eine neue große Debatte
hervorrufen. Auch hier wieder thust Du mir Unrecht
vom Anfang bis zum Ende. Die Mühe, die ich mir genommen, Deine Dichtungen bis in die feinsten Nuancen zu durchdenken und zu ergründen,siehst Du nicht.
Wenigstens erwähnst Dusie mit keinem Worte. Hingegenschreibst Du mir, ichsei
»liebenswürdig« gegen Dich gewesen. Mein lieber Freund, ich bin nicht liebenswürdig
gegen Dich gewesen, und weigere mich entschieden,
jemals liebenswürdig gegen Dich zusein. Ich habe Dir das Höchste in gegeben, was ich Dir geben kann: Wahrheit. Ich bilde mir natürlich nicht ein,
die objektive Wahrheit gefunden zu haben; aber diesubjektive Wahrheit, wie ichsie
empfunden habe, habe ich ausgedrückt. Von meinem Standpunkte aus ist in dieser Kritik jedes Wort wahwahr. Auch der Satz, den Du hervorhebst, ist wahr. Ich habe Dich als Dramatiker zu kritisiren gehabt, nicht als
Novellisten. Ich habe von Dir das große dramatische Werk verlangt, das Du meiner
festen Überzeugung nach leisten kannst, – das Du allein leisten kannst von allen
deutschen Schriftstellern Deiner Generation. Der »Schleier der Beatrice« ist dieses große Werk nicht. Trotz alles Starken und Glänzenden, das dieses
Drama enthält, ist es ein
großes Drama nicht geworden, weil auch hier ein die
Liebschaft als Hauptthema behandelt ist und alles Andere nur als Episode in der
Liebschaft erscheint. Auch auf dieses Drama paßt durchaus der französische Satz»Arthur Schnitzler’s
Dichtungen handeln fast immer zunächst von einer Liebschaft und von allem
Andern nebenbei. Man könnte diese Kunst unter Variirung einer bekannten
Erklärung des Wesens der Kunst definiren, als: ›Un coin de la vie, vu à travers une amourette‹. Diese Art der Darstellung jedoch gibt ein unrichtiges Bild.
Denn die Liebe, obwol sie eine nicht unwichtige Angelegenheit des Daseins
bildet, ist doch immer nur eine Episode im Leben, während in Arthur
Schnitzler’s Schriften umgekehrt das Leben oft als eine Episode in der Liebe
erscheint.
« (S. 4) Der französische Satz kann übersetzt werden als:
›Eine Ecke des Lebens, aus der Perspektive einer Liebelei betrachtet‹. Es ist ein
verfremdetes Zitat im Nachklang von Émile
Zola, bei dem es lautet: »Un œuvre d’art est un coin de la création vu à travers
un tempérament.
« (Ein Kunstwerk ist eine Ecke der Schöpfung, vermittels einer Stimmung
wahrgenommen.) , den ich niedergeschrieben habe, – auf dieses Dramapaßt er erst recht, weil Du hier auf dem Wege zum
Höchsten warst und weilweil Dich diese einseitige Betrachtungsweise, die immer und vor Allem nach ne
neuen Spezialfällen der Liebe Ausblick hält, gerade hier verhindert hat, das Höchste
zu erreichen. Ich hätte das auch in meinem Feuilletonmehr ausgeführt, wenn ich auf der zwölften Spalte
noch Platz gehabt hätte zu dieser Ausführung. Wenn Dich demnächst wieder Leute
fragen, ob ich Deine Werke der letzten Jahre denn nicht kenne,so bitte ich Dich,
ihnen das zusagen.
Von Herzl erhielt ich einen Brief, den ich Dir nichtschicken kann, weil ich ihn der
Curiosität halber meinem Onkel gesandt habe. Ich citire aus dem Gedächtniß folgenden Satz: »Die
Grenzlinie (in meinem Feuilleton über »Lebendige Stunden«)
zwischen aufrichtiger und geschriebener Meinung habe ichsehr wohl bemerkt; aberaber (wenn irgendeine Unaufrichtigkeit entschuldbar ist,so ist es die durch eine
alte Freundschaft gebotene.« Ich habe diesen unsinnigen Vorwurf der Unaufrichtigkeit
in einem
Briefe
mit Entschiedenheit zurückgewiesen.
Zu meiner Freudesehe ich »Lebendige Stunden«ständig auf dem Theaterzettel. Ich hoffe, daß
dies einen Kassenerfolg bedeutet. Haben andere deutsche BühnenIm Herbst 1901 hatte das Wiener Volkstheater unter der Leitung von Emerich von Bukovics die Stücke angenommen, die Premiere fand aber erst am statt.
Siehe auch . die Stücke bereits erworben? Wie
hatsich das BurgtheaterSchnitzler hat zum im Tagebuch notiert: »Ich merke deutlich dass man
weiss das Burgth. ist mir
verschlossen. –
« Das war eine Folge des öffentlich ausgetragenen Streits
um die unklare Annahme und spätere Zurückgabe von Der Schleier der Beatrice durch Paul
Schlenther. Siehe auch und
. verhalten?
Daß Olga immer noch bettlägerig.
ist, bedaure ich unendlich. Ich bitte Dich,sie herzlichst zu grüßen. Kann
ich ihr vielleicht irgend Etwas zu lesenschicken?
An Richardschreibe ich,sobald ich kann. Bitte grüße ihn inzwischen vielmals. Diese
Krankheit.
kommt wahrscheinlich von der Feuchtigkeit in dem verfluchten Nest, in das er ohne jeder
Nothwendigkeit hat hinausziehen müssen. Hoffentlich hat er keine Schmerzen
gelitten.
Ichselbst habe wieder einmal eine bittere Enttäuschung erlebt.erlebt.Kanner war hier, um fürsein
neues Blatt.
Engagements zu abzuschließen. Wenn es
irgendwo Jemanden gibt, den er versuchen müßte, zu
gewinnen,so bin ich es. Ich war erstaunt, daß er mir
keinen Antrag machte. Jetzt hat er in Frankfurt meinem Onkel gesagt, er wolle mich nicht haben,
weil in dem neuen Unternehmen
ihn mein Pessimismus zusehr bedrücken würde. Der
Dieses Urtheil ist blödsinnig. Aber es läßtsich nichts dagegen machen. Ich abersage
mir: Wennselbst die einzigen Leute, mit denen ich zu denen ich aus geistigen und moralischen Gründen gehöre,
mich nicht haben wollen, – wozu habe ich dann mein Leben lang gearbeitet, und welche
Zukunft habe ich zu erwarten?
Sei vielmals und von Herzen gegrüßt! Dein
Paul Goldmn