Berlin, 16. 2. 25.Lieber Arthur,Es hat michsehr gerührt, daß Du mir zu meinem 60. Geburtstageam 31. 1. 1925 gratulirt hast, u. ich danke Dir von Herzen für Deinen Brief. Er hat mich
erfreut – u. ein wenig beschämt. Denn als Du vor wenigen Jahrenam Deinen 60. Geburtstag gefeiert hast, wollte ich Dirschreiben, brachte es
aber nicht über mich, weil ich den Ton nicht finden konnte. Ohne Dir zuschreiben,
habe ich Dir aber, glaube es mir,!, alles Gute gewünscht, wie ich überhaupt, von fern u. in aller der
Stille, an allen Deinen Lebensschicksalen ftets den herzlichsten Anteil genommen
habe.
In unseren Jahren – traurig, nicht wahr?, daß wir bereits »in unseren Jahren«sind! –
vermeidet man gern Aussprachen u. läßt die Dinge bestehen, wie das Lebensie
gestaltet hat. Ich habe aber das Gefühl, daß Dein Brief mich zu einer Angabe von
Gründen für mein Verhalten verpflichtet, u. daß ich Dir für dieschönen Worte, die Du
mir geschrieben hast, volle Offenheitschulde.
Unsere Wege habensich vor Jahren getrennt. Es
gab damals einen StreitPersönlich hatten sie am und vor
allem am
gestritten. Zum großen Bruch war es dann Anfang 1911
gekommen, .
zwischen uns. Du hattest mir vorgeworfen, daß ich über eines Deiner StückeIn dem Streit war es um den Schleier der Beatrice und um Lebendige Stunden gegangen. Hier bezog sich Goldmann auf die Beatrice und seine Kritik darüber: Paul Goldmann: Berliner Theater. (»Der Schleier der Beatrice« von Arthur
Schnitzler). In: Neue Freie
Presse, Nr. 13.851, 19. 3. 1903,
Morgenblatt, S. 1–5. in
der Öffentlichkeit anders
geurteilt hätte, als ich dies vorher in einem Privatbriefe an Dich getan hatte. Ich
empfand dies als eineschwere Kränkung. Denn wenn ich heut auf mein langes
Journalisten-Leben zurückblicke, darf ich von mirsagen, daß ich (in wesentlichen
Fragen) öffentlich niemals anders gesprochen habe, als ich wirklich gedacht habe, –
daß ich niemals zwei verschiedene Meinungen gehabt habe, eine öffentliche u. eine private. Als ich dann meinen Brief. Goldmann dürfte sich auf die teilweise Abschrift seiner
Briefe aus dem Jahr 1900 bezogen haben, . an Dich
nachlas, fand ich bestätigt, daß Du mir Unrecht getan hattest. Dennschon in diesem
Briefe waren Einwendungen angedeutet u. Vorbehalte gemacht – nur waren diese
Einwendungen u. Vorbehalte in rücksichtsvolle Form gekleidet. Denn in einem
Privatbriefe an einen Freundsind Rücksichten erlaubt, ja geboten, während man zu
rückhaltsloser Ausspracheseiner Meinung verpflichtet ist, wenn man als Kritiker zum
Publikumspricht.
Aber, wäre es nur diese Kränkung gewesen, – ich
hättesie längst vergessen u. wäre längst wieder zu Dir gekommen, um Dir die Hand zu
bieten. Die Erinnerungen anschöne gemeinsame Jugendjahre, sdie auch Du in Deinem Briefe jetzt erwähnst, leben weiter u. ziehen mich zu
Dir, der Du ja überhaupt unter all’ den Menschen, denen ich auf meinem Lebenswege
begegnet bin, einer der Besten u. Liebenswertesten bist.
Was mich von Dir ferngehalten hat, war etwas anderes. In einem Deiner BriefeDer Brief ist nicht erhalten. Auffällig ist vielleicht die
Verwendung des Wortes ›unkünstlerisch‹, das in SchnitzlersTagebuch kein einziges
Mal verwendet wird, in Goldmanns Briefen
aber (einschließlich der vorliegenden Stelle) fünfmal., die unser
damaliger Konflikt hervorrief, fandsich
folgende Äußerung über mich (ich zitire nur die hauptsächlichen Worte,soweitsie mir
in der Erinnerung gebliebensind): »Du bist ein Mensch ohne jede Phantasie – eine
gänzlich unkünstlerische Natur.« Das istschlimmer als eine Kränkung – das ist ein
Urteil – ein Urteil, das meine Person, meine ganze Lebensarbeit tief herabsetzt. Ich
fand dasselbe Urteil noch einmal wieder in einem Deiner Stücke, wo, in unverkennbarer Anspielung auf
mich, von einem Journalisten die Rede ist,
einem »ratéFranzösisch: Versager; .
«, der »zu den Menschen gehört, die eine
poetische Seele, aber kein poetisches Talent haben.Goldmann dürfte sich durch diese Stelle im
Einakter Stunde des Erkennens angesprochen
gefühlt haben: »Und
vergiß nicht, mir Flöding zu grüßen. Du kannst ihm auchsagen, daß es eine ganz
besondere Gemeinheit ist,so absolut nichts mehr vonsich hören zu lassen,
wenn man einmalso ›befreundet‹ war, wie er behauptet mit mir gewesen zusein.
« (Komödie der Worte. Drei Einakter.
Berlin: S. Fischer
Verlag 1915, S. 21) Wenige Zeilen später wird Flöding als »ein wenig hinkend
«
geschildert (Goldmann hatte einen Buckel).
Dann folgt die von Goldmann zitierte
Stelle: »Schlimmer find’
ich, daß er eineso poetische Seele besitzt und kein poetisches Talent. Das
verdirbt den Charakter, wie esscheint.
«
(S. 21–22) Dass Schnitzler hier
tatsächlich an Goldmann gedacht hatte, ist
zweifelhaft.«
Ich halte Dein Urteil über mich für unrichtig, finde, daß es mich gänzlich verkennt,
u. habe d damals eine tiefe Bitterkeit darüber gefühlt, daß mich derjenigeso verkennt,
der lange Jahre hindurch mein nächster Freund war. Dieses Dein Urteil über mich hat
mich damals von Dir entfernt u. hat mich bis heut von Dir ferngehalten. Ein Urteil
aber, wie gesagt, istschlimmer als eine
Kränkung. Denn eine Kränkung löscht die Zeit aus. Das hättesie namentlich in unserem
Falle getan. S Denn die Vergangenheit wird ein Ganzes, u. in diesem Ganzen istso viel Gutes,
das ich Dir verdanke, daß der eine Grund, Dir böse zusein, dagegen nicht in Betracht kommt.
Ein Urteil jedoch bleibt. Gewiß, es kann revidirt werden. Aber Du haft essicherlich
nicht revidirt. Denn wenn Duschon in der Zeit, als wir nahe Freunde waren, Dir eineso unrichtige Anschauung über mich gebildet
haft, warumsolltest Dusie geändert haben in den Jahren,seit wir fern von einander
leben? Ich verlange auch keine Revision Deines Urteils über mich. Ich lasse Jedemseine Überzeugung, auch wenn ichsie für irrig halte, –so wie ich beanspruche, daß
man mir meine Überzeugung läßt. Daß Du Dir aber diese Überzeugung über mich gebildet
hast, das macht es mirsoschwer, den Weg wieder zu Dir zu finden. Gewiß, ich bin es
gewohnt, verkannt u. unterschätzt zu werden, –
u. ich habe mich damit abgefunden. Schließlich wird einem das Urteil der meisten
Menschen gleichgiltig, u. man findet sich b,seine Entschädigung darin,, daß ein paar Freunde wissen, wer man ist.
Ein Freund jedoch, dersich dem herabsetzenden Urteil der anderen Menschen anschließt, – gewiß,
auch der Freund hat das Recht,sich in voller Freiheitsein Urteil zu bilden, – ich
aber kann es nicht über mich gewinnen, den
Freund, der mich kennen müßte u. nicht kennt, noch als Freund zu betrachten
Und nunsei nochmals herzlichst bedankt für Deinen lieben Brief! Sei überzeugt, daß
ich, trotz allem, in meiner Gesinnung Dir gegenüber der Alte geblieben bin! Und laß’
Dir von Herzen alles Gute wünschen!
Dein
Paul Goldmann.