14 Mai 1922Prof. Dr. FreudWien IX., Berggasse 19. Verehrter Herr DoktorNunsind auch Sie beim 60sten Jahrestag angekommen, während ich, um 6 Jahre älter,
der Lebensgrenze nah gerückt bin und erwarten darf, bald das Ende vom fünften Akt
dieser ziemlich unverständlichen und nicht immer amüsanten Komödie zusehen.
Wenn ich noch einen Rest von Glauben an die »Allmacht der GedankenFreud hatte den Begriff ein Jahrzehnt
vorher im Aufsatz Animismus, Magie und Allmacht
der Gedanken (1913) und in Totem und Tabu (1913) geprägt. Er bezeichnet damit den
Glauben, mit Hilfe von Gedanken Handlungen und Ereignisse der Außenwelt bewirken
zu können.« bewahrt hätte, würde ich jetzt nicht versäumen, Ihnen diestärksten und herzlichsten Glückwünsche für die zu erwartende Folge von Jahren
zuzuschicken. Ich überlasse dies thörichte Thun der unübersehbaren Schaar von
Zeitgenossen, die am 15t Mai Ihrer gedenken
wird.
Ich will Ihnen aber ein Geständnis ablegen welches Sie gütigst aus Rücksicht für mich
fürsich behalten, mit keinem Freunde oder Fremden theilen wollen. Ich habe mich mit
der Frage gequält warum ich eigentlich in all diesen Jahren nie den Versuch gemacht
habe Ihren Verkehr aufzusuchen und ein Gespräch mit Ihnen zu führen. (Wobei natürlich
nicht in Betracht gezogen wird, ob Sieselbst einesolche Annäherung von mir gerne
gesehen hätten).
Die Antwort auf diese Frage enthält das mir zu intim erscheinende Geständnis. Ich
meine, ich habe Sie gemieden aus einer Art von DoppelgängerscheuDas ist der vermutlich am häufigsten wiederholte Ausdruck,
um eine verbindende Verwandtschaft zwischen Schnitzler im Literarischen und Freud im Psychologischen zu begründen.. Nicht etwa, daß ichsonstso leicht geneigt wäre, mich mit einem anderen zu
identifiziren oder daß ich mich über die Differenz der Begabung hinwegsetzen wollte,
die mich von Ihnen trennt,sondern ich habe immer wieder, wenn ich mich in Ihreschönen Schöpfungen vertiefte, hinter deren poetischen Schein die nämlichen
Voraussetzungen, Interessen und Ergebniße zu finden geglaubt, die mir als die eigenen
bekannt waren. Ihr Determinismus wie Ihre Skepsis – was die Leute Pessimismus heißen
–, Ihr Ergriffensein von den Wahrheiten des Unbewußten, von der Triebnatur des
Menschen, Ihre Zersetzung der kulturell-konventionellen Sicherheiten, das Haften
Ihrer Gedanken an der Polarität von Lieben und Sterben, das alles berührte mich mit
einer unheimlichen Vertrautheit. (In einer kleinen Schrift vom J 1920(Jenseits des Lustprinzips)Er
verwendet eckige Klammern für die Klammern innerhalb der runden Klammer.
habe ich versucht, den Eros und den Todestrieb als die Urkräfte aufzuzeigen, deren
Gegenspiel alle Rätsel des Lebens beherrscht.]) So habe ich den Eindruck gewonnen, daß Sie durch Intuition – eigentlich aber
in Folge feiner Selbstwahrnehmung – alles das wissen, was ich in mühseligher Arbeit
an anderen Menschen aufgedeckt habe. Ja ich glaube, im Grunde Ihres Wesenssind Sie
ein psychologischer TiefenforscherHeinrich Schnitzler verfasste in seiner
Edition 1955 dazu folgenden Kommentar: »Es mag in diesem Zusammenhang angebracht sein,
auf die einige Jahre später veröffentlichte Schrift Arthur Schnitzlers ›Der Geist in
Wort und der Geist in der Tat; Vorläufige Bemerkungen zu zwei Diagrammen‹
(Berlin, S. Fischer Verlag, 1927) hinzuweisen. Wie die ›Vorbemerkung‹ ausführt,
war dies ein Versuch, ›das Gebiet des menschlichen Geistes, erstens insofern er sich
durch das Wort und zweitens durch die Tat kundzugeben vermag, insbesondere
die Beziehung zwischen den Urtypen des menschlichen Geistes, schematisch in
zwei Diagrammen darzustellen…‹. Den in dieser Schrift aufgestellten Typen zufolge
betrachtet sich Schnitzler keineswegs als Dichter, sondern als Naturforscher –
eine von ihm auch im Gespräch wiederholt vertretene Ansicht. Auf S. 39 der eben
erwähnten Schrift heißt es: ›…es gibt auch dichterische Begabungen (besonders
solche mit vorwiegend psychologischer Einstellung), die der Geistesverfassung
nach dem Typ Naturforscher … angehören…«. In seinem Tagebuch erwähnt
Schnitzler sowohl den Empfang von Freuds Brief wie auch die Abfassung einer
Antwort. Notizen dieser Art finden sich in den Tagebüchern sehr selten und nur
in Fällen, in denen Schnitzler den betreffenden Briefen besondere Bedeutung beimaß.
«,so ehrlich unparteiisch und unerschrocken wie nur
je einer war, und wenn Sie das nicht wären, hätten Ihre künstlerischen Fähigkeiten,
Ihre Sprachkunst und Gestaltungskraft, freies Spiel gehabt und Sie zu einem Dichter
weit mehr nach dem Wunsch der Menge gemacht. Mir liegt es nahe, dem Forscher den
Vorrang zu geben, aber verzeihen Sie, daß ich in die Analyse geraten bin, ich kann
eben nichts anderes. Nur weiß ich, daß die Analyse kein Mittel ist,Ab hier seitlich entlang des linken Blattrandes in zwei
Textblöcken geschrieben.sich beliebt zu machen.
In herzlicher Ergebenheit
Ihr Freud